Skip to content

Die Tage ohne Fuchs




Der wahnsinn hat viele Gesichter.
Manchmal frage ich mich, ob es wirklich meins ist, das dazu gehört.

I will follow him
Follow him wherever he may go.
And near him I always will be,
And nothing can keep me away.
He is my destiny.
I will follow him
Ever since he touched my heart I knew.
There isn’t an ocean to deep,
A mountain so high it can keep,
Keep me away,
Away from his love.

I love him!



Die Tage ohne Fuchs


Er kommt nicht. Jetzt weiß ich es. Ich knie vor meinem Rechner, lese immer wieder seine letzte Nachricht. Er wird nicht kommen. Ich sitze da, merke kaum noch die Tränen. Durch die verschleierten Augen blicke ich auf die Magnumflasche Rotwein, die vor mir steht. Ich
schenke mir das erste Glas ein. Nippe vorsichtig an dem mir so wohl bekannten Geschmack. Das wird eine lange Nacht, denke ich bei mir und befühle sacht die Rasierklinge in meiner Hand. Wie von selbst scheint sie durch die Haut in mein warmes Fleisch zu fahren. Langsam überkommt mich ein Gefühl von Erleichterung. Sanft perlt mein Blut über den blassen Schenkel. Ich benetze meine Finger mit meinen Tränen, lasse sie langsam auf die Schnitte tropfen. Sechzehn Stück zähle ich. Sechzehn akkurat gefertigte Schnitte. Alle parallel zueinander, vielleicht fünf Zentimeter lang, der tiefste klafft fünf Millimeter auseinander, vielleicht auch sechs. Ich trinke noch einen Schluck. Ein halbes Glas schaffe ich, da wird mir bewusst, dass der Abend ein böses Ende birgt. Ich rufe Usch an. Ich habe Angst. Ich sag ihr nur, dass er nicht kommen wird.Sie will, das ich die letzte in die Stadt nehme. Sie legt auf. Ich hab sieben Minuten. Wenn ich renne brauche ich vier bis zur Haltestelle, ohne abschließen. Ich reiße eine Hose aus dem Schrank, streife Strümpfe und Pullover über, schlüpfe schnell in die Schuhe, greife meine Tasche. Die Wohnungstüre abschließen, ich kann nicht anders. Dreimal das Schloss überprüfen, dreimal den Schlüssel drehen, dreimal an der Türe rütteln. Dann renne ich los. Renne als würde es keinen Morgen geben. Renne als wäre es das letzte was ich tue. Renne um mein Leben. Ich höre die Bahn hinter mir. Die Ampel ist rot. Höre das Bremsen und Hupen der Autos. Springe über die Schienen. Im letzten Moment schlüpfe ich, völlig außer Atem, durch die Türen der Straßenbahn. ich lasse mich auf eine Sitzbank fallen, versuche tief durchzuatmen. Schließe meine Augen. Langsam, ganz langsam beginne ich mich zu beruhigen. Erst
jetzt bemerke ich, dass ich meine Tasche mit festem Griff umklammert halte. Ich löse meine erstarrten Finger, lasse die Hände behutsam auf meine Schenkel sinken. Ich erschrecke vom klammen Gefühl meiner Jeans. Der ganze rechte Oberschenkel ist mit feuerrotem Ketschup übergossen. Wo kommt das bloß her? Ich versuche mich zu erinnern, brauche einige Sekunden, bis der stechende Eisengeruch meine Gedanken erreicht. Blut. Oh mein Gott, es ist mein Blut. Reflexartig knalle ich meine Tasche über das peinliche Übel. Hastig schau ich mich um, niemand scheint mich, wie erwartet, an zu starren. Mir wird schwindelig und kotzübel. Ich sehne mich nach dem Glas Wein, das halb geleert auf dem Teppichboden im Wohnzimmer steht. „Nächster Halt: Heinrich-Heine-Allee!“ Ich muss raus! Schnell verlängere ich den Schultergurt meiner Tasche, presse sie gegen meinen rechten Oberschenkel und stolpere zur Tür. Die Altstadt ist leer. Ich entsinne mich, dass wir Mittwoch haben. Deshalb also. Meine Hände zittern. Ich habe das Gefühl, gleich ohnmächtig um zu fallen. Der Sog des Alkohols lenkt mich wie mit magischer Hand durch die Gassen und bevor ich mich versehen kann stehe ich schon vorm Schaukelstühlchen. Völlig erschöpft lasse ich mich in den Hauseingang nebenan fallen. Ich schreibe Usch eine SMS. „Bin da! Warte vor der Tür!“ Es dauert zehn Minuten bis sie kommt. Sie merkt sofort, dass etwas nicht stimmt.Sie will, dass ich mit rein komme. Ich zeig ihr meinen Schenkel. Sie sagt, sie wolle mich in die Klinik bringen, jetzt endgültig. Ich springe auf, will ihr widersprechen, doch bevor ich den Mund öffnen kann, merke ich, wie ich benommen zurück sinke um sie von unten her an starren.
Das Licht auf dem Gang ist gleißend hell. Usch spricht mit einer Frau hinter einem Tresen. Zerrt an meiner Tasche, die ich noch immer beschützend vor meinen Schenkel drücke. Irgendwas zieht sie heraus. Es interessiert mich nicht. Ich bin müde. Will schlafen. Wir sind in einem dunklen Raum. Kein Licht. Nur vom Gang her kommt ein schwacher Schein durch die angelehnte Tür. Wir sitzen in der Mitte einer Stuhlreihe an der Wand. Uns gegenüber, bis zur Decke reichende, verschlossene Schränke. Ich zähle zwölf. Immer wieder. Wir reden nicht. Zumindest merk ich nichts. Oder habe ich gerade doch etwas gesagt? Ich schau zu Usch hinüber. Sie nimmt meine Hand. Ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter und fange an zu weinen. Es ist ein tonloses Weinen. Einzig die Tränen auf meinen Wangen lassen es erkennen. „Er kommt nicht!“- „Ich weiß!“, wir flüstern. Ich weiß nicht warum. Es scheint niemand in der Nähe zu sein, der uns hören könnte. Überhaupt scheint niemand in der Nähe zu sein. Totenstille. Nur das surren der Lampen auf dem Gang ist zu hören. Mir scheint es vergeht eine Ewigkeit. Dann hört man Schritte. Das energische Klacken von flachen Absätzen, die eilig über das abgewetzte Linoleum hasten. Stimmen. Wieder Schritte. Eine Frau steht in der Tür. Fragend sagt sie einen Namen. Usch rüttelt an mir. Schiebt mich zur Tür. Sie muss warten. Ich gehe mit der Frau. Wir sitzen in einem kleinen Büro. Der Schreibtisch ist unordentlich und wüst. Überall Akten und Zettel. Frau Dr. Gascher, lese ich auf dem Schildchen, welches sie sich an die Brusttasche ihres weißen Kittels gesteckt hat. Sie beobachtet mich eine Weile. Die blonden schulterlangen Haare hat sie streng nach hinten gebunden, Ihr Gesicht wirkt abgespannt und müde. Die großen mausgrauen Augen sind hinter dicken Brillengläsern eingerahmt. Die Gläser wirken wie eine Lupe. „Aber Großmutter...“ will ich sagen. Ich muss mich zusammen nehmen. Ich glaube ich lache. Jedenfalls beginnt auch Frau Dr. Gascher zu lächeln. Es wirkt gezwungen und unsicher. Sie stellt mir einen Haufen Fragen. Jetzt lache ich wirklich. „Hören Sie Stimmen?“ „Nein!“ „Warum lachen Sie denn?“ „Weil das eine blöde Frage ist! Ich bin doch nicht verrückt!“ „Also, das hat doch nichts mit verrückt zu tun!“ „Na, ich höre jedenfalls keine!“ Also, wenn man solange nicht schläft wäre das nichts ungewöhnliches, wenn man Stimmen hören würde!“ „Aha...“ „Also, wenn ich wie Sie zwei Wochen kaum geschlafen hätte, würde ich bestimmt Stimmen hören.“ „Also, Frau Dr. Gascher...“, denk ich so bei mir, „wie lange haben SIE eigentlich schon Nachtschicht?“. Ich sage aber nichts mehr. Lache nur noch ein bisschen. Es klopft an der Türe. Usch kommt rein. Sie muss die letzte Bahn nehmen, es ist schon kurz nach Mitternacht. Frau Dr. Gascher lässt sie ihre Telefonnummer aufschreiben. Usch drückt mich noch einmal. Dann fällt die Tür ins Schloss und ich bin allein. Allein mit der Ärztin des Grauens. Und immer wieder diese Fragen. „Aber Großmutter...“ will ich wieder sagen. Aber ich kann nicht mal mehr Lachen.Sie geht endlich raus. Ich lege meinen Kopf auf die Tischkante und schließe die Augen. Jemand berührt mich an der Schulter. Ich schrecke hoch. „Aber Großmutter!“ sage ich völlig perplex und schaue in das verwirrte Gesicht mit den riesigen mausgrauen Augen. Wir laufen durch grelle Gänge und verwinkelte Treppenhäuser. Einmal fahren wir sogar Aufzug. Dann warten wir lange vor einer verschlossenen Tür aus milchigem Glas. Ein großer kräftiger Mann in weiß öffnet uns. Wieder so ein tagheller Gang. Ich muss warten, Großmutter hat etwas zu besprechen. Eine Frau im Pyjama hastet den Flur auf und ab. Wie ein Tiger im Käfig. Ich kann die Technomusik aus ihren Kopfhörern zu mir herüber schallen hören. Da würde ich auch bekloppt werden, bei der Musik. Aus dem Raum direkt neben mir kommen Schreie. Ich entdecke eine Scheibe, einen Raum weiter. Da steht Frau Dr. Gascher. Sie redet mit mehreren Leuten in weiß. Alle tragen hier weiß. Nur die Dame im Pyjama nicht. Und ich auch nicht. Durch den Raum kann ich, durch eine weitere Scheibe, in das andere Zimmer blicken, das aus dem die Schreie kommen. Es ist vollkommen leer. Einzig eine Matratze liegt auf dem kahlen Boden. Dort liegt eine Frau am Boden und scheint sich vor Schmerzen zu winden. Sie trägt ein Negligee aus Satin. Bodenlang. Ihre roten Locken sind wild zerzaust. Niemand beachtet sie. Sofort wünsche ich mir einen Pyjama und will schon meinen Mp3-Player suchen, als Frau Dr. Gascher aus einer Saloontür tritt und mich in einen weiteren Raum schiebt. Es ist ein Behandlungszimmer. Das erkenne ich an der Liege, die in bedrohlicher Weise den größten Teil des Raumes auszufüllen scheint. Sie will, dass ich mich entkleide. Ich kann mich nicht bewegen. Jetzt soll ich bloß die Schuhe ausziehen. Na gut! Ich öffne die nassen Schleifen. Hat es geregnet? Ich erinnere mich nicht mehr. Nicht mal mehr daran wie ich hier hin gekommen bin. Usch, an Usch erinnere ich mich. An Usch werde ich mich immer erinnern. Ihre Stimme reißt meine Gedankenwolken auseinander. Sie muss kurz weg. Sie verlässt das Zimmer. Zu meinem eigenen Erstaunen bin ich fast nackt. Schnell ziehe ich die Hose und das T-shirt wieder an. Gerade als ich in den Pullover schlüpfe kommt Großmutter wieder! Sie mustert mich von oben bis unten. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, dann stehe ich wieder nur in Schlüpfer und BH vor ihr. Sie glaubt die Wunden müssten versorgt werden. Sie hole eine Schwester. Ich soll mich auf die Liege setzen. Kaum ist sie aus der Tür, kleide ich mich sofort wieder an. Es dauert wieder unendlich lang bis sich etwas im Raum bewegt. Ich überlege ob ich das einfach nur so war nehme oder ob wirklich alles in Zeitlupe passiert. „Zeit ist relativ!“ schwirrt es mir durch den Kopf und lässt mich nicht mehr los bis ich wieder angezogen im Gang stehe. Ein junges Mädchen mit langem dunklen Zopf reicht mir ein kleines transparentes Becherchen mit grünem Inhalt.Die Braut des Reanimator. Ich schlucke es. Hoffentlich war es zur oralen Aufnahme gedacht. Hier scheint alles möglich. „Reanimate, hey, hey baby emergency, it's not too late, reanimate...“ Ich kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Fr. Dr. med. Gascher holt mich ab und führt mich zusammen mit dem großen Portier an eine der zahllosen Türen des Ganges. Vor mir öffnet sich ein typisches Krankenhauszimmer. Zwei belegte Betten, ein leeres in der Mitte. Der Portier zieht das Laken vom Bett und schlägt die Decke zurück. Es fröstelt mich als ich die Segofix Elemente sehe die um die Matratze geschlungen sind. Großmutter fragt den Portier ob er denke man würde sie brauchen. Er lässt sich Zeit mit der Antwort und mustert mich eine lange Zeit. Dann schüttelt er den Kopf. Großmutter muss wieder weiter und lässt mich ohne ein Wort des Abschied in der Tür stehen. Der Portier heißt Martin und möchte, dass ich mich ins Bett lege. Ich kann mich nicht bewegen. Meine Tasche ist weg. Ich bleibe in der Tür stehen. Martin schaut ein paar Mal nach mir und da ich ihm nicht gestatte meinen Arm zu nehmen um mich ins Dunkel zu begleiten merkt er an er wäre im Schwesternzimmer und deutet auf die Saloontür. Der Himmel beginnt sich schon zu röten, als ich nicht mehr stehen kann. Vorsichtig lege ich mich in das weiße Bett. Wie schade für die reine Bettwäsche denke ich, als ich mich dazu entschließe die Schuhe an zulassen. .Mein Schlaf ist tief und traumlos. Das hübsche, brünnette Mädchen ist über mich gebeugt. „Frau Mallst“, spricht sie mich an, „kommen Sie. Es gibt jetzt Frühstück!“ Zwei Scheiben trockenes Körnerbrot, eine Scheibe Käse, ein Pächchen mit Butter und eines mit Erdbeermarmelade. Ich wäre gerne Zuhause und würde Rührei und Speck für Uschi braten. Ich laufe über den Flur zu dem Zimmer zurück. Da sehe ich Martin. Er steht an Eingang zum Saloon. Scheint auf mich zu warten. In der Hand hält er dieses kleine transparente Becherchen und ein größeres. Er deutet mir an zu ihm hinüberzulaufen. Im kleinen Becher ist diesmal nichts radioaktives. Es sind zwei verschiedene Tabletten. Eine runde, gelbe und eine ovale, weiße. Im großen Becher ist Wasser. Erschöpft leg ich mich ins Bett. Ich öffne die Augen und sehe das Gesicht einer älteren Dame. Sie scheint auch im Saloon zu arbeiten. Das erkenne ich sofort an ihrer Kleidung. Es gibt wohl Mittagessen. Als ich nach dem nächsten Besuch der Saloontür, die ich, wie ich heraus gefunden habe, nach jedem Essen aufzusuchen habe lege ich mich wieder ins Bett. Ich bin unendlich müde. Eine Stimme weckt mich. Sie kommt vom Gang her. Ich höre nur gemurmel, doch weiß ich sofort warum mich der Klang geweckt hat.“Usch!“ schreie ich und springe hastig aus dem Bett. „Usch!“ Meine Beine Geben nach. Ich krabbel auf allen Vieren durch die offene Zimmertür. „Usch!“ ich ziehe mich am Türrahmen empor und renne so schnell ich kann an meine liebste Brust. Sie hält mich fest, stützt mich und wir liegen regungslos einander in den Armen. Ein blonder Bube, schmal und blass, nickt Usch zu. Wenn wir uns so lieb haben, könne sie rein kommen. Usch kommt mit aufs Zimmer. Später geht sie mit mir zu Saloon. Holt mein Handy, damit ich meine Mutter anrufen kann. Sie sagt mir, ich nähme jetzt Lorazepam und Quentiapin. Deshalb schlafe ich auch so viel. Ich rufe meine Mutter an und gebe das Handy dem Blassen. Nach dem Abendbrot geht Usch. Sie will morgen wiederkommen mit frischer Wäsche und Zahnbürste. Ich schlafe und werde nachts noch einmal vom Becherchen geweckt.
Nach dem Frühstück setzen sich alle die einen Pyjama tragen, auf die Stuhlreihe vor der Saloontür. Ich will nicht auffallen, obwohl ich das in Jeans und Pullover ohnehin tue und setze mich dazu. Neben der Saloontür ist noch eine andere. Ein Mann kommt immer wieder raus und sagt irgendwelche Namen. Die Pyjamas werden immer weniger. Zum Schluss sitze ich alleine dort und der Mann bittet mich in ein kleines Büro. Es sind noch zwei andere Männer im Raum. Ich sage nichts. Ich sage ihnen gar nichts. Sie machen sich trotzdem allerhand Notizen. Ich beuge mich ein wenig vor und lese überkopf vom Klemmbrett.“Unkooperativ“ steht dort in fetten Lettern. Ich lache. Ja, auch Schweigen sagt eine Menge über einen aus. Ich verrate ihnen nicht warum ich lache. Sie würden es wahrscheinlich auch nicht lustig finden. Schließlich ist es ihr Beruf und deshalb fühlen sie sich dazu berufen. Es ist eine ewig währende Tortur und ich sehne mich danach ins Bett zu dürfen. Ich fühle mich müde und ausgelaugt. Ich will ins Bett. Aber sie brauchen Antworten und können nicht selbst beantworten was sie sowieso schon wissen. Warum schreiben sie nicht einfach „Krank“ oder wenigstens „Bekloppt“ auf ihre Klemmbretter? Aber nein, das würde nicht reichen. Wir sind hier bei Wissenschaftlern zu Hause und die müssen alles wissen denn damit beschäftigt sich die Wissenschaft ja auch! Verschafft euch Wissen! Es ist völlig irrelevant ob es ihnen hilft, Wissen zu erlangen. Hauptsache sie wissen etwas, auch wenn sie mit diesem Wissen nichts anfangen können! Wir wissen jetzt, dass ich unkooperativ bin und da sie wissen welche Medikamente man in solchen Fällen von mangelnder Kooperation verabreicht, handeln sie schnell etwas aus, ohne mich als Mitwisserin einzuweihen! Ich werde fort geschickt und die Türe hinter mir verschlossen. Ich stehe im Gang und irgendwie hat mich das Gespräch aufgewühlt. Ich kann jetzt nicht ins Bett. 11:23Uhr ist ohnehin zu früh zum schlafen gehen. Ich schleiche durch die Gänge. Meine Finger fahren den rauen Putz der Wände entlang. Im Speisesaal stelle ich mich vor die Fensterfront. Die gesamte Außenwand des Raumes ist verglast. Das schafft Licht und Atmosphäre, welche die Bekloppten mehr als nötig haben. Vorbei sind die Zeiten als man sie in dunklen Kellern vor sich hin vegetieren ließ und sie vor der Menschheit versteckt hat! Jetzt muss sich die Menschheit vor ihnen verstecken, denn man weiß heute, dank der Wissenschaft, dass wir wissen wie man alles heilt, das abnormal scheint. Resozialisierung ist das Zauberwort! Wir müssen alle Kanten schleifen bis die Menschen reibungslos funktionieren. Unkooperation verursacht Reibung und das könnte das gesamte System entflammen. Ich fühle mit den Fingerspitzen die Kälte des Winters durch die Glasscheibe kriechen. Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind auf meine Freundin gewartet habe. Ein kleiner Ort. Kaum Autos auf der Straße. Es ist kurz vor halb acht und ich stehe an der Kreuzung. Die Laternen flimmern von schwachem gelben Licht. Doch ich spüre kaum das drückende Gewicht meiner Schultasche. Es ist der Schnee. Er verzaubert die Welt. Es scheint taghell obwohl der Himmel tiefschwarz ist. Man kann nur einige wenige Spuren im sonst unberührten Weiß sehen. Die Luft ist so klar, dass man in ihr den Schnee schmecken kann. Alles ist erfüllt von einer solchen Reinheit, selbst das Licht mit seinem makellosen Ursprung. Ich will mich in das weiche Bett des kleinen Feldes legen und dort ruhen! Ich erinnere mich an die heißen Tränen und das unstillbare Verlangen, diese Reinheit zu meinem eigen zu machen. Ich versuche mich zu erinnern wann ich meine eigene Unberührtheit verloren habe aber es ist zu weit weg. Alles was mir bleibt ist die Kälte die meine Wange berührt, als ich den Kopf ans Glas drücke.Innen und Außen vereint.
Meine Mutter küsst mich und hält mich im Arm. Ihre Stirn ist vor Sorge in Falten und ihr Mund zerkniffen. Ich Frage mich warum wir geboren werden müssen und nicht im Schutz des mütterlichen Leibes fristen können. Aber ohne Kinder keine Mütter. Und so müssen wir vom Kind zur Mutter werden ohne das uns jemand sagt wie es enden wird. Wir dürfen uns nicht selbst entscheiden. So harre ich in ihrer Umarmung aus. Versuche jedes bisschen ihrer Wärme zu stehlen. Ich weiß, dass sie bald wieder gehen muss. Trotzdem versuche ich mir vorzustellen sie würde für immer bei mir bleiben. Ihre Wärme würde ein Teil von mir werden und mit mir verschmelzen. Ich nähre mich an ihrer Liebe und trinke von ihrer Sorge, doch mein Verlangen kann ich nicht stillen. Zu wenig Zeit bleibt uns, zu wenig um all die verlorenen Jahre einzuholen. In Lichtgeschwindigkeit sind sie meinem Rufen davon geflogen.
Ich komme aus dem Duschraum. Mehrere Leute scheinen mich zu erwarten und beäugen mich mißmutig. Keiner sagt was. Ich auch nicht. Doch als ich gerade am Saloon vorbei schlendern will schießt die Alte heraus und hält mich am Arm fest. Sie fragt ob ich schon wieder duschen war. Ich überlege einen Moment und fasse in meine Haare. Naß. Ich bejahe und schau sie erwartungsvoll an. Sie sagt nichts versucht bloß einen strengen Gesichtsausdruck. Ich erinnere mich, daß mir meine Stiefmutter mal das Duschen verboten hatte. Anstelle dessen musste ich jeden Tag meine Haut mit Nachtkerzenöl einreiben. Bis die rissigen Stellen weg waren durfte ich nur noch einen Waschlappen benutzen. Seitdem hasse ich Waschlappen. Eigentlich jede Art von Lappen. Einmal spülen und ab in die Wäsche. Ich frage sie ob sie Nachtkerzenöl hat. Sie schüttelt zögernd mit dem Kopf. Auch meine Erklärung das ich dann weiter duschen muss scheint sie nicht zufrieden zu stellen. Ich geh ins Bett und versuche zu schlafen.
Abends läuft ein Film im Speisesaal. Interessiert setze ich mich in die letzte Stuhlreihe. Ich erkenne die Szene. Gleich wird der Mann mit dem Bart erschossen und fällt von Kugeln durchlöchert zu Boden. Überall Blut. Doch zu meinem erstaunen hört man nur einen Schuss und der Bildschirm bleibt ein paar Sekunden schwarz. „Geschnitten!“ rufe ich laut. Alle schauen mich an. Ich bin sowie so schon sehr absonderlich. Nicht nur, weil mir aufgefallen ist das ich gar keinen Pyjama besitze, sondern auch weil ich ständig in der Dusche oder im Bett bin. Ich weiß, dass ich etwas ändern muss. Ich weiß nur nicht genau, was es ist. Irgendwas blockiert meine Gedanken. Ich fühle mich wie in Watte gepackt. Alles ist abgeschwächt und gedämpft. Nichts ist klar und spürbar, nichts scheint sicher und glaubwürdig. Ich muss heraus finden was hier vor sich geht. Was mit mir vor sich geht. Ich atme tief ein und halte einen Moment die Luft an.
Als der Film vorbei ist und ich ins Zimmer gehe laüft der kleine Blasse hinter mir her. Er reicht mir mein Becherchen und während ich den Inhalt schlucke begreife ich plötzlich was hier vor sich geht. Ich bin schockiert und habe gleichzeitig Angst. Im Bett versuche ich wach zu bleiben. Aber es fällt mir schwer einen Plan für den nächsten Tag zu fassen.
Nach dem Frühstück steht Martin im Gang und hält mir den Becher hin. Ich erkläre ihm, dass ich die Medikamente nicht mehr nehmen werde. Er sagt mir , das müsse ich erst mit dem Arzt besprechen. Ich habe Angst, die Wirkung könnte mich wieder so vernebeln, dass ich dem Arzt nicht erklären kann wie ich darüber denke. Nach einigem hin und her, schlage ich ihm vor solange die Einnahme zu unterbrechen, bis ich mit dem Arzt gesprochen habe. Wenn es mir jedoch zwischenzeitlich schlecht gehe, ich mich sofort bei ihm melde und die Medikamente doch nehmen würde. Schließlich willigt er doch ein. Erste Schlacht gewonnen!
Als Strafe für meine Anmaßung werde ich mit dem Versprechen wenigstens Abends etwas zum Schlafen zu nehmen in eine andere Abteilung verlegt.
Der Wahnsinn geht los.
In der anderen Abteilung sieht alles gleich aus und funktioniert auch alles gleich. Mit der Ausnahme das die anderen Insassen alle wacher und agiler wirken. Gleich als ich ankomme flippt eine Frau die hastig ihre Taschen zur Tür trägt völlig aus. Ich stehe im Gang und sehe fünf Pfleger die eine ca. 160cm große, 55kg schwere Frau zu Boden reißen um ihr etwas in den Oberarm zu spritzen. Ich sage Frau Dr. med. Gascher, die hier Stationsärztin ist, dass ich in drei Tagen gehen möchte.
Ich kann nicht mehr schlafen. Die letzten Nächte liege ich wach und habe eine wahnsinnige Angst, dass man mich zwingen könnte hier zu bleiben, hier in diesem ewig währenden Alptraum. Ich höre den Schwanensee. Ich beginne die zeit in Schwanenseen zu zählen. Noch 9,5 mal bis es Frühstück gibt. Noch 18,5 mal bis Usch kommt. Noch 67 mal bis ich gehen kann!
In dieser Nacht ruft er mich an. Ich habe das Handy beim „umziehen“ nicht wieder abgegeben, keiner hats gemerkt. Er ist betrunken. Er sagt mir das er am Wochenende kommt und wenn sie mich nicht gehen lassen wird er mich befreien.Er ist gut zu mir, so lieb. Er macht mir Hoffnung. Ich muss Heim! Mit zusammen gepressten Zähnen verbringe ich die letzten Seen und ertrage ihre Reden. Ertrage wie sie versuchen mich bei sich zubehalten. Ertrage wie sie versuchen mir meinen Selbstwert und meine Kraft zu rauben um mich so schwach zu machen, damit sie ihr Studienobjekt nicht ohne ein zufriedenstellendes Ergebniss entbehren müssen.
Es geht Heimwärts, Fuchs. Ich komme zurück.Ich will nie wieder in diesen Tagen sein. Den Tagen ohne Fuchs.

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Formular-Optionen